10. Juni 2021 Anna Gyapjas, Berliner Zeitung: „Unterwegs in den Kulissen fremder Leben“ Eine Berliner Künstlerin vernetzt Leute, die sich gerne in fremden Wohnungen umschauen. Ein Selbstversuch.(Anna Gyapjas und Berliner Zeitung) Würden Sie einer fremden Person vorübergehend Ihr Heim überlassen? Also den Ort, an den Sie sich zurückziehen, wenn das Getöse der Welt zu viel wird; den Ort, an dem Sie nichts darstellen, keine Stärken performen sondern ganz Sie selbst sein dürfen? Und wenn die Antwort nein lautet: Warum eigentlich nicht? Sibylle Herfurth (Name geändert) macht gerade genau das, und ich bin die Fremde. Die Charlottenburgerin flötet mir eine Begrüßung entgegen, als ich die Stufen zu ihrer Wohnung hochsteige, wie ich wohnt sie im Hinterhaus, erster Stock. Damit haben wir schon mal etwas gemeinsam, denke ich, wie um mir Mut zu machen. Denn für das Unterfangen, das mich erwartet, fehlen mir jegliche Erfahrungswerte. Herfurth, die anonym bleiben möchte, wird mir gleich ihre Wohnung überlassen. Und ich werde zimmerreisen. „Wir alle gestalten unseren Lebensraum, drücken uns darin aus“, erklärt Stefie Steden, die sich diesen Zeitvertreib ausgedacht hat. „Und das Fremde wie das Eigene kann man in einer Wohnung ganz in Ruhe studieren.“ Für die Künstlerin dreht sich dabei alles um die Erkenntnis, die sich aus der ungewohnten Situation ergibt, wenn man nur die notwendige Neugier aufbringen kann. Bei ihr hatte sie sich regelmäßig eingestellt, wenn sie früher Kleinanzeigenfunde abholen ging. Gern wäre sie länger blieben, um sich umzugucken, aber der Anlass, hereingebeten zu werden, war nicht gegeben. Mein Herz pochte wild, als würde ich etwas Verbotenes tun Und so erfand Steden den Rahmen, in dem das möglich wird: In der AG Minimales Reisen führt sie Menschen zusammen, die gerne schauen, entdecken und verweilen. Als Gesellschaft hätten wir uns, so Steden, darauf geeinigt, diskret zu sein und nicht zu bewerten: „Aber wenn du deinem Geist zuhörst, dann wird es spannend“, erklärt sie. Eine Reise ins Innere, in fremden vier Wänden. „Fühl dich wie zu Hause!“, ruft mir meine Gastgeberin zu, bevor sie die Tür hinter sich zuzieht. Ich nehme es mir fest vor, bezweifle aber sofort, dass das geht. Nicht, dass die Wohnung nicht einladend wäre: Die Räume können dank vier Meter hohen Decken atmen, gelbe Tulpen leuchten auf dem Küchentisch, der Geruch von Kartoffeleintopf empfängt mich schon im Flur. Und vorhin, als sie sich für ihren Spaziergang rüstete, habe ich mir Zugang zu einem Lippenstift verschafft. Anders als die anderen auf dem Regal steckte er noch in seiner Verpackung, oder besser schon wieder, denn die Pappschachtel war knitterig. Plötzlich ging mein Atem schneller, das Herz pochte wild, als würde ich nicht einfach nur eine Verpackung öffnen, sondern etwas Verbotenes tun. Hastig stecke ich den Lippenstift zurück in die Hülle. Als Herfurth fort ist, überlege ich, was mit der Drei-Zimmer-Wohnung anzufangen sei. Anders als in einem Museum darf ich Dinge anfassen und untersuchen, Schubladen aufziehen und hinter Schränke gucken. Ich entscheide mich dafür, den neun Meter langen Flur entlangzuhüpfen. Beim ersten Mal komme ich mir noch ziemlich albern vor, beim zweiten Mal komme ich in Fahrt, und ich hopse so lange, bis mein Atem schwer geht. Ist ja niemand da, der mir diesen Spaß verderben könnte. Das war es wohl, was Stefie Steden mit dem performativen Aspekt einer Zimmerreise gemeint hat: Dass man bei seinem Aufenthalt auch sich selbst beobachtet, als wäre man die Darstellerin auf einer Bühne und die fremde Wohnung die Kulissen. Aus der Erde der Zimmerpflanzen ragen Lilien aus Plastik Wenn Steden selbst auf Zimmerreise geht, endet sie in Paralleluniversen: „Bei mir ist das eine Reise zu den Lebenswegen, die ich nicht genommen habe“, sagt sie. „Es ist eine schöne Vorstellung, dass ich durch die Kulissen meines nicht stattgefundenen Lebens gehen kann.“ Das Bühnenbild meiner Zimmerreise ist eklektisch wie bei den meisten, die ihre Inneneinrichtung nicht professionell durchstylen lassen: An der Wohnzimmerwand steht ein Sideboard-Regal-Kombinat im Containerstil, weiße Flächen, metallene Kanten, wie man es von Büroräumen kennt. Von der obersten Ablage lässt ein Holz-Zebra seine Beine baumeln. Aus der Erde der Zimmerpflanzen in der Ecke ragen Callas aus Plastik, an der Wand das Poster einer Picasso-Ausstellung. Wie tief man in diese Kulisse vordringt, ist wohl individuell. Ich jedenfalls ziehe Schubladen nur auf, um zu schauen, wie sich das anfühlt, zu eingefleischt ist der Konsens, dass mich das nichts anzugehen hat. Stattdessen ziehe ich suchend durch die Räume wie eine Feldforscherin. Wieso zieren bunte Klebestreifen die weiße Wand? Ach so, weil dahinter Löcher sind. Fotos eines Mädchens, wohin ich auch schaue? Sibylle ist also Mutter. Das leere Regal im Jugendzimmer, das Bett verdächtig ordentlich gemacht? Die Tochter wohnt wohl woanders. Hinter dem Regal finde ich einen Kachelofen, den Millenials als Kronjuwel ihrer Inneneinrichtung inszeniert hätten. Zuhause fühle ich mich erst, als ich meine Reise auf dem blauen Wohnzimmersofa ausklingen lassen will: Ich schalte die Standleuchte aus Reispapier an, dazu muss man nur mit dem Fuß über den Regler am Boden wischen. Mit einem Mal fühle ich mich in das Wohnzimmer meiner Kindheit teleportiert, Erinnerungen kommen hoch. Unsere Lampe sah anders aus, aber der Schalter war derselbe. Als Sibylle zurückkommt, will sie wissen, was ich entdeckt, wie ich ihre Wohnung erlebt habe. „Das lüpft die Wohnung so an“, findet sie und meint den Blick des Fremden, der alles sieht, nur nicht das Alltägliche. Ich erwähne ihren Windsurf-Schein, ausgestellt in Berlin – Sibylle staunt und weiß nicht mal, wo er liegt –, den Lebensfreude-Kalender an der Wand neben ihrem Schreibtisch. Betroffen rollt sie mit den Augen, „ein Geschenk“, eigentlich sind ihr die Sprüche darin viel zu kitschig. Ich biete an, ihn wegzuschmeißen. Schließlich hat sie mir ihr Vertrauen geschenkt, als sie mich zurückließ, außerdem weiß ich, welche ungewollte Macht Gegenstände entfalten können, wenn sie erst lange genug da sind. „Das würdest du machen?“, frohlockt sie. Noch Wochen später freut sie sich, das Teil los zu sein. „Lass bitte die Finger von den Notizbüchern“ Was Sibylle mit der Aufwertung der eigenen Wohnung gemeint hat, erschließt sich mir erst, als ich eine Woche später selbst eine Zimmerreisende in meine Wohnung lasse. Sie fragt nach Bleistiften, damit sie in meiner Abwesenheit zeichnen kann, und ich verlasse das Haus aufgeregt, in dem Wissen, dass jemand dort gerade eine Auszeit vom Alltag nimmt. Etwas merkwürdig ist das schon. Denn natürlich habe ich vorher eine gute Stunde gesaugt, gewischt, allzweckgereinigt, um einen guten Eindruck zu machen. Das Loslassen ist aber gar nicht so schwierig. Denn während man seine persönlichen Habseligkeiten vor Untermietern oder Airbnb-Reisenden eher bei Freunden oder im Keller in Sicherheit bringt, kann ich hier schlicht um Abstand bitten. Zimmerreisende pflegen einen transparenten Umgang mit Grenzen. Tatsächlich ist es sehr erfrischend, auf „Lass bitte die Finger von den Notizbüchern“ ein aufmerksames, beinahe warmherziges Nicken zu bekommen. Als ich zurückkomme, erwartet mich die Studentin schon unter der Kastanie im Hof. „Wann warst du in Asien?“, erkundigt sie sich. Auch sie scheint auf der Suche nach Hinweisen gewesen zu sein, in der Küche hängt ein Foto, das ihre Frage erklärt. Weiter geht es mit meinem Studium, wegen der „Einführung in die Literaturwissenschaften“, die im Wohnzimmer liegt und nichts mit meinem Werdegang zu tun hat. Sie findet, man sehe der Wohnung an, welches Geschlecht der Bewohnende hat und erzählt von ihre letzten Zimmerreise, ebenfalls nach Moabit, aber in eine Männerwohnung. Bei dem hätten weniger Dinge rumgestanden, die nett anzuschauen sind. Meine Wohnung ein „Frauenzimmer“? Nachdem die Zimmerreisende gegangen ist und ich die Wohnungstür aufschließe, ist alles wie immer. Nur mein Blick wird plötzlich magisch angezogen von jenen Gegenständen, die meine Besucherin auf teils richtige, teils falsche Fährten gelockt haben. Auch meine Wohnung wurde angelüpft – und mein Fokus neu kalibriert. Der Klunker aus falschem Gold, besetzt mit falschen Diamanten, platziert vor dem Badezimmerspiegel nicht aus ästhetischen, sondern nostalgischen Gründen: Klarer Punkt fürs Frauenzimmer. Auch in der Küche sticht ins Auge, was die junge Frau im Hof angesprochen hat: die Ernährungstabellen an der Wand. Sie listet saure und basische Lebensmittel. Und ist ebenso überholt wie Sibylle Herfurths Lebensfreudekalender. Mich davon trennen? Habe ich bis heute nicht geschafft. Mitmachen kann man unter http://minimalesreisen.de/. Und am Donnerstag, den 10. Juni findet das nächste Treffen der AG statt. Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert. Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.