Mit Viola Eistert
in Mitte

Weinfarbenes Aufrüschen verlebter Vögel in Novembersonne

In einem Wasserglas stehend begrüßt mich ein ins Gelbe entfärbter, teilweise vertrockneter Rand eines kindskopfgroßen Marantenblattes. Es steht in stiller, stagnierender Novembersonnenwärme auf dem groben, patinierten Holztisch im Esswohnküchenzimmer von M. und den verschiedenen mitwohnenden Halb- und Ganzerwachsenen, die sie aufgezählt hat bei der anfänglichen schnellen Wohnungsführung. Aus der Stille wachsen anschließend: ein Zwitschern von draußen, herbstmüde, nicht mehr ganz überzeugend. Ein Rauschen von einem sehr sehr entfernten Auto, fast mehr erinnert als real. Ein Summen des realen Kühlschranks, eine Melodie enthaltend, ein Klirren, akustisches Flirren. Auch der Glasringabdruck auf dem Holztisch scheint ein Geräusch zu machen, in dieser stehenden Wärme überlagern sich die Eindrücke. Die Novembertemperatur wird hier oben wahrscheinlich über den ganzen Winter konserviert, vermutlich kann man sich noch Ende Dezember an einem vorigen Märzmuckeln erwärmen. Jemand wirft ein Altglas containertief. Jetzt ist es ganz still.
Die Farben um den Esstisch herum – ich habe eine Runde gedreht, eine lautlose – sind gedeckte Farben, Linoleumtischplattengrün, Aktenordnergraublau. Die Tasche der Superachtkamera meiner Eltern hatte genau dasselbe Weinrot, bei dem man sich fragt, ob der Name nicht doch vom naheliegenden unweigerlichen Gefühlsausbruch herrührt. Trotzdem erweckt die Farbpalette die Vorstellung der sieben Zwerge, die hier gelegentlich zu Besuch aufschlagen und ihre Stühle nach Farben besetzen. Ich wäre gern Mäuschen.
Ich wäre auch gern Mäuschen, wenn hier Menschen sitzen. Ich würde gern bei jedem kleinen Krümel, der jetzt so unschuldig herrenlos die Tischfläche ziert, das Szenario rückwärts im Schnelldurchlauf sehen und rekonstruieren können, wann er von welchem Brot oder Keks abgekrümelt ist. Und dann das Geräuschbild festhalten, die Abbildung eines Klanges. Ich habe meine eigenen Kekse ausgepackt und ziehe jetzt um.
Das weiche, samtene Sofa hat die Farbe von gülden angehauchtem Fastsilber, so zart glänzend, und doch so fast farblos, dass es dem darauf Geträumten keine Fremdfärbung verleiht. Ich hebe meinen Blick aus der Flauschigkeit von Samt und Fell, schaue mich um und entdecke die Betonung der Vertikalen: Wandfugen und -kanten, Kronleuchter, die es anmaßend mit Kirchenaccessoires aufnehmen möchten, zu spontaner Artistik einladende Schaukelgriffe, dünne Schnürchen und schwere Lampenschirme, schließlich an über Haken verbundenen Fädchen hängende Kirchenmodelle oder Modellkirchen, ein stolzes Gehänge aus fünf Gotteshäusern, Hl. Thomas, Skt. Anna, Skt. Hubertus, die kleine Theresenkapelle, Mariahilf! Wenn das nicht in die Vertikale geht. Fenster, unter der Dachschräge, Oberlichter. Ehre sei den Flugpiratengefährten und hinter der Heizung klemmenden Alupappesatelliten. In die Wolken nicken Kiefernzweige. Lampions entrückt, Schilf dachterrassig wolkennah. Ich brauche einen Schluck Wasser, schnell.
Über der Spüle esse ich mein mitgebrachtes Obst, hinterlasse einen Obstschalenhaufen in der rechten vorderen Ecke. Dabei höre ich ein Geräusch von links und später eines von rechts. Links das war, wie sich nach einer visuellen Inspektionstour zeigt, die Vogeluhr. Ich habe diese Uhr auch, aber der hiesige Vogel hat definitiv andere Drogen konsumiert als meine heimische Schar. Der hier hat Rock’n’Roll erlebt, ich bin neidisch. Wenn auch ich persönlich mit dem verlebten Altvogel nicht tauschen möchte. Das Geräusch rechts war ein kleiner Pups der Kaffeemaschine. Ganz souverän hat sie einfach ein bisschen Luft abgelassen. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, dass sie sich dadurch so personifiziert. Ich gehe weg von der Spüle, auch wenn mich die zwei Messer mit Glitzergriffen kurz noch etwas fasziniert hatten.
Ein Kinderzimmer, ich habe den Überblick über die schnelle Namenfolge verloren, jedenfalls wohnt hier eines der halberwachsenen Kinder, also ein Jugendliches. Hier wird gestapelt, ein Tetris aus Möbeln, Kästen und Architekturelementen. Der Balkon gibt an unerwarteter Stelle den Blick auf die Straße frei. Dann wieder Waldboden. Ein Fuchs, plakativ. Verschiedene Stecker wachsen wie Pilze aus dem Boden. Seitlich des Sessels, auf dem ich wie ein sehr kurzweilender Gast sitze, tut sich ein in die Außenwand führendes Regal auf mit Autoteilen, Pappeteilen inklusive Aufklebern, Infrarotfallen, Zauber-Electric-Puzzlen, eine Unterwelt, eine Zwischenwelt, ich vermisse die dazugehörige Akustik. Es treibt mich weiter, bevor es mich vollends in das Außenwandregal hineinzieht.
Ich bin im Bad gelandet, im wahrsten Sinne. Erst bin ich mit dem Rechner in den Händen mit den Füßen gegen eine übersehene Stufe gestoßen, konnte mich grade noch auffangen, so dass nur der Computer gegen die Wand geknallt ist. Es ist noch mal alles gut gegangen, außer dass ich mir den Knöchel irgendwie verdreht habe. Erschrocken setze ich mich direkt in die Mitte des Bades auf besagte Stufe. Hätte ich mich noch heftiger verletzt bei meinem ungeschickten Auftritt, gäbe es jetzt dunkelrote Flecken auf den kleinen cremefarbenen Flieschen, die würden farblich ziemlich gut passen und sich auch thematisch recht erzählerisch machen. Es riecht nach warmem feuchtem Handtuch, angenehm, wie in einem Massageraum. Wenn ich atme, gibt es einen minimalen Hall des Atems zwischen den Kachelwänden, und das Klackern der Tastatur ist ebenfalls ohrenbetäubend laut. Dazwischen dann wieder Stille, die mehr Feuchtigkeit enthält als im Nachbarraum. Ich werde rastlos. Hoffentlich kommen jetzt keine Stufen mehr, ich sehe mich schon eine überraschende Treppe hinunterstürzen.
Statt dessen bin ich nun im Königinnenreich. Ich muss mich nicht mal umsehen, um das auratische Feld zu spüren. Her Highness sitzt an einem Tisch, den ich beim Eintritt nicht genau gesehen habe, zwischen uns stehen nun Archivkästen, die mir wie aus einem anderen Leben sehr sehr bekannt vorkommen. Ihr Rechner rauscht laut, als würde er die Tüllen ihres Kleides enthalten und unentwegt aufrüschen. Das gefällt mir, dass M. einen Rechner hat, der unentwegt ihre majestätischen Tüllen rüscht und puschelt, vermutlich mit einem irren Stromverbrauch. Sie macht dabei Geräusche mit der Tastatur, aber es gelingt ihr nicht, ein Schreibklackern zu simulieren. Ich phantasiere eine selbstgebaute Tastatur mit allem anderen als Buchstabentasten, eher diverse Knöpfe, Tasten, Schalter, mittels derer sie regiert. Dazwischen das Geräusch von Cord und Leder, als wäre sie an einer Nähmaschine zugange. Vielleicht hat sie einfach ein kleines Soundstudio hinter diesen Karteikästen eingerichtet, aber so einfach wird die Erklärung nicht sein. Mein Nacken schmerzt empfindlich von meiner ungelenken Baderoberung. Die Farben wirken auch hier zusammen mit der Lichtqualität, auch hier steht die Novemberwärme sonnig hinter den großen Fenstern, und vor graublauem Teppich lehnt sich ein Ledersessel zurück, als wäre er aus hunderttausend Handtaschenleben genäht und hätte mächtig was zu erzählen.
Soll ich das Königinnenreich schon wieder verlassen? Hinter den Karteikästen ist ein Glucksen zu hören, minimal, als würde die mysteriöse Regimentsmaschinerie gelegentlich Luftbläschen aufsteigen lassen. Wahrscheinlich drückt M. nur auf ihren Synthesiser und amüsiert sich königlich über mein Rätseln.
Wenn sie nicht wüsste, dass ich hier wäre? Ich wäre vom Himmel gefallen, und müsste nun sehen, wie ich hier wieder unbemerkt rauskäme. Ich müsste jetzt vor ihrem Tisch entlang kriechen, ohne dass sie mich hörte oder sähe. Sie macht Geräusche, wie um mich an die Seriosität meines Tuns zu erinnern, ja ich weiß, M., war nur so eine Idee. Die Taftmaschinerie rauscht. Jetzt hat sie ein metallenes Dröhnchen eingebracht, ganz klein, vielleicht nur das Strecken eines Lampenbeinchens. Raffiniert. Es drängt mich wieder hinaus, aber ich komm hier irgendwie nicht weg. Welches Zimmer könnte mich rufen?
Noch eines der vielen erwachsenen Kinder, entwachsenen Kinder, und Mittelpunkt dieses Reiches ist die kleine Farnidylle auf dem Balkonlein. Ein Elfenreich. Der Elf antwortet sogleich mit Flugzeugdonner, das hätte ich ihm nicht zugetraut. Als ich mich umschaue, stelle ich fest, hier liegt man auf dem Boden, auf einem Teppich, man fletzt sich sozusagen. Ich habe mich lange nicht mehr auf einem Teppich gefletzt. Der ganze Oberkörper liegt und fletzt jetzt schon, ich stütze mich auf und schreibe einseitig. Bilder liegen auf dem Boden. Bei mir zu Hause befinde ich mich auf Bodenniveu und muss daher alles etwas anheben – hier ist man den Wolken so nah, dass man sich in den Teppich legen kann, und die Bilder gleich dazu, und alles was man sonst so braucht.
Ich sitze wieder am Tisch, am Ausgangspunkt der Reise. Der Lichteinfall ist weitergewandert, der Trockenrand auf dem Marantenblatt zwangsläufig auch. Wie wäre es, wenn ich einfach hier bliebe? Ich reduzierte mich auf einen leichten Nackenschmerz, gelegentliches Tastaturgeklacker, das hier und da mit dem bronchienkranken Vogel kommuniziert, ansonsten machte ich mich so unsichtbar wie das Flugzeugdröhnen und der Kaffeemaschinenpups.
Wie zur Bestätigung zwitschert das nächste Vögelein. Es ist der Zweiuhrvogel, er trägt dem Vernehmen nach einen Knebel im hinteren Schnabelraum und hat in seinem Lebtag noch nie Wasser zu trinken bekommen, aber er feiert tapfer alle zwölf Stunden seine Party.
Der Kühlschrank gibt mir seinen Segen. Das Bad raunt. Ich werde mich jetzt an die Königin wenden, das Schweigen brechen.