Online nach Kreuzberg

Das vorgestellte Zimmer: ich war dort schon einmal, auf Zimmerreise. Ist ne Weile her. Ich kenne sie inzwischen ein bisschen, wir sind ein paar Reisen zusammen gereist.22.3.2020 Das Los bestimmt, dass ich den Versuch unternehmen soll, online zu ihr zu reisen. Es ist schwierig, weil ich das Ziel schon kenne. Aber die Möglichkeit zu befehlen, wo sie die Kamera hinhalten soll, gefällt mir. Ich will versuchen zu vergessen, dass ich dort schonmal war und versuchen zu zimmerreisen. 04.04.2020 „Recording is on.“ Ich verlasse mich darauf, bemerke es zwar nicht, aber später als ich feststelle, dass die Aufnahme unbrauchbar ist, spüre ich die Lücke. Ich denke an all die ungelesen Bücher im Regal, die ungereisten Reisen, die verpassten Gelegenheiten. Ich denke an die Zeit, die nicht war und an die, die dafür eingesprungen ist. Aufnahme also. (Die Stellen, die das Video nicht erreicht hat, in der Erinnerung ist es platt. Eine Tapete, an die Wände geklebt. [*Zutreffendes bitte ankreuzen:] [ ] a) Es dauert eine Weile, bis ich dazu komme, mir das Material anzuschauen. [ ] b) Ich habe reingeschaut und direkt anschließend festgestellt, dass das Material unbrauchbar ist. Ich kann mich nicht erinnern, welche Aussage zutreffend ist. Auch diese Erinnerung ist weg. Die App hat immer genau die Person in den großen Hauptplatz eingeblendet, die spricht, und ich habe Befehle gegeben, war also nach Ansicht der App diejenige, der die Aufmerksamkeit gehörte. Auf meiner Kamera klebte ein postIt. Nun wir in dem ganzen Film hauptsächlich Lücke markiert.) Ich sehe das schlechte Material durch, angele nach Screenshots, taste nach Erinnerungen. Ich notiere Zeitmarken und Assoziationen. Rechnerzicken, ein entnervter Neustart, die Notizen verschwinden. Ich fange wieder bei Null an. 17.08.2020 Ich verliere meinen Schlüssel. Wo ist K.?

Nachtrag
grau
Wohnzimmer – Fenster hell„und dreh dich mal langsam um, damit ich alles sehen kann. Die Kamera muss ja auch erst hell werden.“
nächstes Bild: Bett„Gehst du ein bisschen runter? Es sieht ein bisschen anders aus als früher.“
„Ah, ja. Ok.“ Ein zerwühltes Bett. (Zu dem Zeitpunkt war K. noch auf tinder.)
Wer ist sie?
Wer ist ist sie, die ich nicht bin?
„Ziehst du mal die Schuhe an?“
Ich reise zum zweiten Mal zu K. Zwischen meiner ersten und meiner zweiten Zimmerreise war ich nicht dort.
Das Zimmer ihres zukünftigen Mitbewohners. Sie wollte eigentlich eine Frau, aber ihr Blick war an seinem Profil haften geblieben.
Sein Bett ist unverwühlt.*
Ich wähle ihr das Profil eines Mannes aus.** (Mich haben die Männer meiner Freundinnen immer verstört. Die Kerle erschienen mir meist übelst unattraktiv.)
An diesem Tisch wird er arbeiten.
Sein Ausblick.
Was liegt auf seinem Nachttisch?
Haar.
Küche. Einer der zwei Stühle.
Zwischen Tür und Angel. Klopapier-Vorräte***

Fragen:
Kann man online zimmerreisen? Kann ich mein Zimmer verlassen, indem ich einen digitalen Raum betrete? 
Kann man zimmerreisen ohne sein Zimmer zu Lassen? oder: Kann man reisen während man bleibt?****

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* Ich schäme mich, recherchiere und stelle fest: Auch Zimmerreisen tragen – wie ‚ubiquitäre Literatur‘ – etwas Wesentliches in sich: die „persönlich wertenden, urteilenden, auch begehrenden, bewundernden, verteufelnden, verwirrten, beneidenden, ausgelaugten, vermissenden, zweifelnden, hadernden, gierigen, hetzenden, ratlosen oder fahrigen Untertöne“ (Holger Schulze: Ubiquitäre Literatur, Berlin 2020)
** Ich besuche die Website von C. und verliere beim Betrachten des Profilbildes des Kollegen von C. das Vertrauen in den Laden. Später meine ich zu erkennen, dass das Verwenden eines Stockfotos Kunst ist. Ich wähle das Foto für den zukünftigen Mitbewohner von K.
*** Filmtermin 4.4.2020, Klimax des deutschen Klopapierengpass.
**** Werbeblock: Diese letzte Fragen findet ihren Weg in das Magazin der „KHB Fragen an das Reisen“. Sie ist die 73. von 282 Fragen. Die Sammlung entstand während KHB Artist Residencies und Workshops.